Diese beachtenswerte Rede hielt der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Konrad Weiß 1992 im Deutschen Bundestag.

Sie hat an Aktualität nichts, aber auch gar nichts eingebüßt!!!

 

„Ich schäme mich"

 

Ich schäme mich. Ich schäme mich, Deutscher zu sein. Ich schäme mich, in einem Land zu leben, das eine Mauer der Gewalt, der Gefühllosigkeit, der Selbstsucht um sich baut, schäme mich, in einem Land zu leben, in dem Menschen Beifall klatschen, wenn Menschen angegriffen, verletzt, vertrieben werden. Ich schäme mich, Mitbürger von Feiglingen zu sein, die Frauen und Kinder schlagen und drangsalieren, die Jagd auf jene Menschen machen, die bei uns Zuflucht und Hilfe suchen oder anders sind.

Weder die unbewältigte Vergangenheit noch die Deformierungen aus 6o Jahren Diktatur dürfen als Entschuldigung dafür dienen, dass Menschen wie Tiere über Menschen herfallen. Diese Fremdenfeindlichkeit so vieler Deutscher ist eine Unmenschlichkeit, die unentschuldbar ist!

Haben wir Ostdeutschen aus 40 Jahren Unterdrückung und Eingesperrtsein wirklich nichts anderes gelernt als Ausgrenzen, Aussperren und Ausstoßen? Und ist die westdeutsche Demokratie nach 40 Jahren wirklich so verkommen, dass sie sich nicht mehr zu  wehren weiß?

Jeder und jede in unserem Land muss unsere Demokratie verteidigen. Das beginnt mit scheinbaren Kleinigkeiten, die aber so viel Mut, Wachheit und Zivilcourage erfordern. Denn es braucht Mut, dem Taxifahrer oder dem Kollegen, der von „Kanaken" spricht oder fremdenfeindliche Witze erzählt, über den Mund zu fahren. Und es braucht genauso Mut, denen entgegenzutreten, die Polizisten als „Bullen" beschimpfen oder sie bei ihrer Arbeit zum Schutz von Mitbürgerinnen und Mitbürgern behindern. Es braucht Courage, nicht wegzusehen oder sich davonzuschleichen, wenn Menschen Menschen beleidigen und misshandeln oder wenn Steine und Brandflaschen geworfen werden. Es braucht Courage, dem Nachbarn, der zum Sturm auf Ausländer Beifall klatscht, in aller Eindeutigkeit zu sa­gen, was man von ihm hält.

Eine der Ursachen des Unheils, das wieder über Deutschland gekommen ist, ist die Beja­hung von Gewalt. Die Barbarei der Rechtsradikalen wird aus den vielen kleinen Gewalttä­tigkeiten gespeist, an die wir uns gewöhnt haben und die wir fast widerstandslos hinneh­men. Wir haben es nur ungenügend gelernt, Konflikte gewaltfrei zu bewältigen, im Kleinen ebenso wie im Großen. Wir dulden die Gewalt im Straßenverkehr und die Gewalt der Er­wachsenen gegen die Kinder. Wir akzeptieren, dass Gewalt gegen Frauen als Kavaliersdelikt angesehen wird. Wir nehmen die vielfältigen, die verbalen oder handgreiflichen Gewalttätigkeiten gegen Minderheiten und Andersdenkende gedankenlos hin. Wir dulden unter dem Vorwand, die Frei­heit der Kultur zu schützen, dass uns und unseren Kindern unentwegt die scheußlichsten Gewalttaten vorgeführt wer­den. Es ist die Saat dieser Gewalt, die nun aufgeht. Unsere Demokratie, unser Land können wir nur durch eine große Koalition der Menschlichkeit vor dem Rückfall in Barbarei und Totalitarismus bewahren. Diejenigen, die heute „Neger aufklatschen", werden morgen uns und un­sere Familien foltern und töten. Sie werden, wenn wir sie gewähren lassen, nicht danach fragen, ob wir Sozialdemo­kraten oder Kommunisten, ob wir christliche oder liberale Demokraten, ob wir Grüne oder Bürgerrechtler sind. Wir werden uns gemeinsam in ihren Vernichtungslagern wie­derfinden, wie es 1933 geschah, wenn wir sie gewähren lassen.

Einige von uns stehen schon jetzt auf ihren Todeslisten.